Lützerath ist nicht die erste Räumung im Braunkohletagebau, die stattfindet, aber es ist eine besonders signifikante. Die 1,5 Grad Grenze fällt zwar real nicht in Lützerath (es wäre theoretisch möglich, die hier ausgestoßenen Emissionen anderswo einzusparen bzw. wieder „einzusammeln“), aber symbolisch schon.
Die Räumung von Lützerath ist das Symbol einer verfehlten Klimapolitik. Es ist eine Zeitenwende, doch wohin diese Wende führt, wissen wir noch nicht.
200 Künstler:innen schreiben zu Beginn der Räumung in einem offenen Brief: „Lützerath kann zu einem Moment der Zukunft, des klimapolitischen Aufbruchs und der Demokratie werden – oder zu einem verheerenden Signal, wenn hier Konzerngewinne über den Schutz der Allgemeinheit gestellt werden.“ Die Schauspieler:innen und Musiker:innen appellieren an die Bundes- und die NRW-Landesregierung, die Räumung sofort zu stoppen.
Das Abbaggern der Kohle sei „nicht nur eine Frage der Existenz eines Dorfes, sondern eine Causa, von globaler und klimapolitisch richtungsweisender“ Bedeutung. Auch 500 Wissenschaftler:innen der „Scientist for Future“ forderten ein Moratorium der Räumung sowie eine Überprüfung der Gründe für die Räumung.
Die Räumung ist rechtens – “vermutlich”
Regierungssprecher Steffen Hebestreit sieht als Grundlage der Räumung „eine eindeutige Rechtslage“ verwaltungsgerichtlicher Urteile an. Ein offener Brief kritischer Jurist:innen aus Leipzig, Passau, Berlin, Marburg und Hamburg widersprechen diesem Urteil jedoch. “Seit mehreren Jahren reißt Deutschland mit einer inzwischen fast erwartbaren Selbstverständlichkeit die selbst gesetzten Klimaziele ein. 15 Grad im Januar erinnern daran, dass ein Erreichen des 1,5-Grad-Ziels von Paris in immer größere Ferne rückt.”, schreiben die Jurist:innen und stellen fest: “Es ist zu erwarten, dass sich in Lützerath das bereits aus der Räumung des Hambacher Forsts bekannte Spiel wiederholen wird: Ein dringend zu schützender Ort wird für den Kohleabbau geopfert und die ihn verteidigenden Klimaaktivist:innen werden auf Grundlage einer rechtlich zumindest fragwürdigen Rechtsgrundlage geräumt.”
2021 sei die Verfassungswidrigkeit der Räumung gutachterlich festgestellt worden: „Der Bund hat seine Gesetzgebungskompetenzen klar überschritten und eine Erforderlichkeit für die Versorgungssicherheit herbeigeschworen, um die Profite von RWE zu sichern“, schreiben die Jurist:innen in ihrem offenen Brief an Justizminister Buschmann, Innenminister von NRW Reul und Klima- und Wirtschaftsminister Habeck.
Kohle unter Lützerath wird zur Energiesicherheit nicht benötigt
Unabhängige Studien sagen, dass die Kohle unter dem Dorf nicht benötigt wird, um die Energiesicherheit zu gewährleisten. Die Grünen haben sich auf diesen, sehr schlechten (sehr sehr schlechten) Deal eingelassen. Sie haben mit einem Konzern verhandelt, der die Lebensgrundlagen vieler, auch vieler Menschen weit weg (im globalen Süden) aufs Spiel setzt. Die ganze Welt blickt auf Lützerath und fragt sich, wie es sein kann, dass sich im Jahr 2023 im doch so “umweltbewussten” Deutschland Klimaaktivist:innen gegen Kohlebagger stellen müssen.
Im vergangenen Oktober verkündete Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (ebenfalls Grüne) und dem RWE-Vorstandsvorsitzenden Markus Krebber, dass Lützerath abgebaggert werden solle. Durch die Räumung von Lützerath und den Abbau der besonders dicken Kohleflöze mit 680 Millionen Tonne Kohle würden 250 Millionen Tonnen CO2 emittiert werden. Das sind so viele Emissionen, wie Belgien jährlich ausstößt und würde das völkerrechtliche Abkommen der Klimakonferenz in Paris brechen. Noch im NRW-Wahlkampf waren die Grünen als Oppositionspartei für den Erhalt aller Dörfer und die zügige Abwicklung des Braunkohleabbaus eingetreten.
Antizipierte Polizeigewalt
Der Polizeieinsatz, der (durch Steuergelder finanziert) Konzerninteresse durchsetzen soll, läuft alles andere als friedlich ab. Bereits am ersten Tag der Räumung berichtet die Sanitäterin Iza Hofmann der Demosanis von zahlreichen Kopfverletzungen. Wer möchte (und sich das ansehen kann), kann in den sozialen Medien live dabei sein, wie die Hundertschaft mit voller Aggressivität in friedlich stehende Aktivisti hineinstürmt, um sie mit ihren Schildern zu Boden wringen. Es wird berichtet, dass Polizist:innen sitzende Menschen mit der Kapuze am Hals nach oben ziehen. Die nordrhein-westfälische Polizei warnt vor „erheblichen Risiken“ für die Einsatzkräfte. Während von Seiten der Polizei noch bekräftigt wird, wie gefährlich ihr Einsatz in Lützerath ist, karren sie schon stärkere Geschütze heran, wappnen sich mit Wasserwerfern, Räumfahrzeugen und Hundertschaften aus 14 Bundesländern.
Der Aachener Polizeipräsident Dirk Weinspach erklärte, man werde auf Deeskalation setzen, aber wohl „auch gewaltbereiten Straftätern gegenüberstehen“. Von einem Teil der Aktivist:innen wurden am Sonntag Steine geworfen, während der Rest skandierte: „Keine Steine!“.
Klimaaktivist:in ist nicht gleich Klimaaktivist:in
Lützerath zeigt auch: Es gibt nicht “die” Klimaaktivist:innen. Die unterschiedlichen Gruppierungen, ihre Aktionen und die Bereitschaft zu extremen Mitteln und Gewalt unterscheiden sich. Hinzu kommen Trittbrettfahrer extremistischer Gruppierung. Die gemäßigte Mitte der Aktivist:innen muss sich von ihnen klar distanzieren. Wer Steine wirft, schadet der Klimaschutzbewegung.
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch hinaus. „Uniformierte Beamt:innen mit Helmen, Schildern, Waffen und der Macht eines Millionenkonzerns im Rücken“ stellen sich in Lützerath gegen „die Einzelnen, die sich dem Stopp der unnötigen Klimaverbrennungen im Sinne des Pariser Klimaabkommen verschrieben hat“, schreibt die taz und zieht den Vergleich zwischen David und Goliath. Sich mit einem Sichtschutz gegen Tränengas oder Schienbeinschonern gegen Tritten zu schützen, ist diesen Menschen übrigens nicht erlaubt – damit machen sie sich des Schutzwaffengebrauchs strafbar.
Nach Lützerath fahren Menschen, die merken: „In der Klimapolitik läuft etwas gewaltig schief, das können wir nicht länger akzeptieren.“ Die meisten Protestierende in Lützerath seien „vernünftige Menschen, die ein echtes Anliegen haben“, sagte der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU) im “Morgenmagazin” des ZDF. Gegen die Minderheit, die zu Gewalt neigt, müsse die Polizei vorgehen.
In Lützerath prallt die systemische Gewalt der gewaltsamen Zerstörung eines Dorfes auf Staatsgewalt. Kann man nur hoffen, dass das nicht in einer Spirale aus Gewalt endet.
Repressive Polizeimaßnahmen nehmen zu
Die Polizei macht ihren Job, heißt es. Aber was genau ist ihre Jobbeschreibung bei diesem Einsatz? Wie kann ein Einsatz gegen Menschen, die unser aller Lebensgrundlagen verteidigen möchten und darauf aufmerksam machen, rechtfertigen, dass die Polizei Sanitäter:innen aus dem Dorf verweist? Dass Medienvertreter:innen an ihrer Arbeit gehindert werden? Die Pressefreiheit wurde nach Berichten der Journalistengewerkschaft dju am Mittwoch massiv eingeschränkt.
Repressive Polizeimaßnahmen werden sowohl vor Ort als auch gegenüber anreisenden Personen angewandt. Bestsellerautorin Katja Diehl berichtet auf Instagram, wie sie mit einem gemieteten Bus über drei Stunden in einer Polizeikontrolle festgehalten wurden, als sie am Sonntag zum Dorfspaziergang nach Lützerath fahren wollten. Die Busgruppe aus Hamburg wurde zwei Minuten, nachdem sie zu einer Demo nach Lützerath fahren wollten, vom Hamburger Staatsschutz aufgehalten und gefilzt. In Düsseldorf am Hauptbahnhof überprüft verstärkte Polizeipräsenz Menschen, die so aussehen, als könnten sie nach Lützerath wollen, kontrolliert ihre Personalien und durchsucht Rucksäcke.
“Durch Maßnahmen wie diese wird die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit zunehmend kriminalisiert”, schreiben die kritischen Jurist:innen in ihrem offenen Brief und erklären weiter: “Eine Verfassung hält sich nicht von allein am Leben. Sie ist nur so viel wert, wie sie insbesondere von Seiten des Staates respektiert und gewahrt wird, vor allem gegenüber Meinungen und Protest, der ihn herausfordert und unliebsam ist.”
An einem Tag, an dem in Lützerath Journalist:innen und Sanitäter:innen bei der Arbeit gehindert wurden, sollten deutsche Polizist:innen daran erinnert werden, dass sie nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sind, bei rechtlichen Bedenken Befehle zu verweigern.
Der Staat ist nervös
Klimaschutz ist kein Verbrechen. Dennoch werden Klimaschützer mehr und mehr wie Verbrechende behandelt. In den vergangenen Monaten wurden Klimaproteste zunehmend kriminalisiert. Das hat Auswirkungen auf die Versammlungsfreiheit.
Wie viel läuft schief in einem Staat, der Staatsgewalt für ein schmutziges, millionenschweres Unternehmen gegen Bürger einsetzt, die ihr Recht auf eine gesunde Umwelt begreifen und einfordern, dass geltende Klimaverträge und die Verfassung eingehalten wird?
Der Staat ist nervös, sonst würde er nicht mit immer härterer Hand gegen „Klimaterroristen“ (aka Aktivisti) vorgehen. Und das nur, um die tatsächlichen Klimaterroristen (aka RWE) zu schützen und zu unterstützen.
Die Proteste werden nicht abnehmen, je härter draufgehauen wird. Dieses „Problem“ für den Staat wird nicht kleiner, je härter sie dagegen vorgehen.
Klimaprotest ist nervig, er stört die politischen Abläufe und erinnert die regierenden Parteien stetig an ihre eigenen Versprechen und Verpflichtungen, die sie brechen und denen sie nicht nachkommen.
Es gäbe ein Mittel gegen diese Proteste, und das ist nicht noch mehr Repressalien, nicht noch mehr Gewalt, sondern: Effektiver Klimaschutz.
Sieben, der zehn größten Klimaverschmutzer in der EU sind deutsche Tagebaue. Doch anstatt dass ein Kohleausstieg beschlossen wird, der TATSÄCHLICH dafür da ist, Emissionen zu begrenzen und weg von den fossilen Energien zu kommen, wird ein zwar schnellerer, aber dafür emissionsreicher Kohleausstieg beschlossen! Nettes Detail dazu ist, dass der ehemalige Büroleiter von Annalena Baerbock, Titus Rebhann, ab März als Cheflobbyist bei RWE arbeiten wird.
Für was „Lützerath“ steht, realisieren Medienhäuser und ein Großteil der Bevölkerung noch gar nicht
Fatal ist, dass von den meisten großen Medienhäusern kein Bogen zwischen „Lützerath wird geräumt“ und „Die Kohle ist nicht notwendig“ geschlagen wird, sondern dass sich ein Graben der Unwissenheit auftut, der so groß wie der Tagebau Garzweiler ist. Es wird zwar berichtet, aber einseitig, an guter Klimakommunikation hapert es gewaltig. “Lützerath wird geräumt”, liest man und vor welchen Herausforderungen die Polizei steht.
Doch oftmals fehlt der Zusammenhang mit dem Klimaschutzabkommen von Paris und der Darlegung, dass ein vorgezogener Kohleausstieg nicht automatisch eine Klimaschutzmaßnahme ist, sondern in diesem Fall eine Profitschutzmaßnahme. Wie in diesem Kommentar, der ein Beispiel von vielen ist: “Das [der vorgezogene Kohleausstieg] können auch die Klimaaktivisten als Erfolg für sich verbuchen. Sie täten besser daran, sich jetzt auf die wirklich drängenden Themen zu fokussieren und die Politik hier in die Pflicht zu nehmen.”
Diese Räumung steht für so viel mehr als nur für die Häuser in Lützerath. Es geht nicht um die Häuser, sondern um die Kohle, die darunter abgebaut werden soll. Um die Emissionen, die dadurch freigesetzt werden. Der Physik ist egal, ob diese Emissionen bist 2038 oder bis 2030 freigesetzt werden. Wichtig wäre, dass sie NICHT freigesetzt werden. Das ist in vielen Medienhäusern und in Teilen der Bevölkerung gar nicht angekommen. Da wird auf TikTok gefordert, die Cops sollten doch Flammenwerfer auf die Aktivisti werfen, da wird Hass geschürt und Stimmung gemacht „Lützi fällt sowieso“.
In Lützerath kämpfen Aktivisti für die Polizei, gegen die sie kämpfen
Das kapitalistische Vorgehen der Politik zerstört menschliche Existenzgrundlagen, verspielt die Zukunft der Bevölkerung und opfert wissentlich und willentlich ihr Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt. „Und weil diese Politik das tut, haben eben diese Menschen das Recht und die Pflicht, zivilen Ungehorsam zu leisten“, schreibt die Journalistin Mia Latkovic auf Instagram.
„Stellvertretend für uns alle kämpfen die Aktivist:innen in Lützerath. Sie kämpfen sogar für jene, die dieses Kämpfen ablehnen und verurteilen. Denn auch die Zukunft dieser Menschen riskieren Staat und Politik durch ihre verantwortungslose Klimapolitik.“
Die Aktivist:innen in Lützerath kämpfen auch für die Politiker:innen und schmutzige Unternehmen wie RWE, die mit ihren Entscheidungen und ihren Handlungen Lebensgrundlagen zerstören.
Sie kämpfen sogar für die Polizist:innen, gegen die sie kämpfen.
Well, that’s ironic.
Selbst wenn Lützi nicht bleibt – es wird etwas bleiben!
Aktuell werden Millionen Steuergelder gemeinsam mit Millionen Tonnen an CO2 verpulvert. Aber eben nicht, weil Menschen für Klimaschutz demonstrieren gehen! Sondern weil der Staat fossile Konzerne unterstützt und die Erderwärmung weiter anheizt. Und diesen Fahrplan, so unrechtmäßig er auch ist, mit immer stärker repressiver Gewalt durchsetzt. Die Polizei setzt lieber Konzerninteressen durch, als Menschenrechte zu achten.
Dieser Zusammenhang ist elementar zu verstehen.
Lützerath hat aktuell das Potenzial, ein Bewusstsein für die Klimakrise über die Grenzen der klimabewegten Bevölkerung hinaus zu schaffen. Der Fall Lützerath trieft nur so von Ungerechtigkeit, Unverhältnismäßigkeit und Unverschämtheit seitens der Politik, dass die kapitalistischen Interessen und die gewaltbereite Umsetzung dieser sogar für ungeübte Augen erkennbar sein könnten. Es geht nicht nur um den Ort Lützerath, es geht um den Boden darunter und die Luft darüber.
Lützerath ist die Weggabelung, an der vorgetäuschte Klimaschutzmaßnahmen vor den Augen der Weltöffentlichkeit in eine Sackgasse geführt werden. Jetzt ist es an der Bevölkerung, dies zu sehen und effektive Klimaschutzmaßnahmen zu fordern.
Vielleicht werden genug Menschen durch diese Räumung aus ihrem Ich-weiß-wir-leben-in-der-Klimakrise-aber-ich-verdränge-das-erfolgreich Delirium aufwachen. Vielleicht so viele, dass dadurch ein sozialer Kipppunkt* ausgelöst wird.
Mit Kindern über die Klimakrise sprechen?
Ja, aber richtig!
Wie das geht? Das habe ich in einem kurzweiligen, empowernden E-Book geschrieben.
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